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Hier, wo wir uns begegnen

Erschienen am 26.08.2006
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446206557
Sprache: Deutsch
Umfang: 223 S.
Format (T/L/B): 2.2 x 20.9 x 13.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

John, der Ich-Erzähler, trifft in Lissabon auf einer Parkbank seine längst verstorbene Mutter wieder. In Genf besucht er mit seiner Tochter das Grab von Jorge Luis Borges und in Islington erinnert er sich an die Studienzeit an der Kunsthochschule und die Londoner Liebesnächte, während die Bomben fielen. All das sind Stationen in John Bergers Buch der Erinnerung, in dem er all seine großen Themen vereint: Begegnungen und Abschiede, das Sichtbare und Verborgene, die Kunst und das Leben.

Autorenportrait

John Berger, 1926 in London geboren, war Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker. Bereits 1972 wurde er mit dem Booker Preis ausgezeichnet. John Berger lebte viele Jahre in einem Bergdorf in der Haute Savoie. Er starb 2017 in Paris, nur wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag. Bei Hanser erschienen Essaybände, Gedichte und Romane, zuletzt Gegen die Abwertung der Welt (Essays, 2003), Hier, wo wir uns begegnen (2006), A und X (Eine Liebesgeschichte in Briefen, 2010), Bentos Skizzenbuch (2013), Der Augenblick der Fotografie (Essays, 2016), eine Neuausgabe von Von ihrer Hände Arbeit (Eine Trilogie, 2016) und zuletzt Ein Geschenk für Rosa (2018).

Leseprobe

In Lissabon stand mitten auf einem Platz eine lusitanische, das heißt portugiesische Zypresse, deren Zweige man so gerichtet hatte, daß sie nicht in den Himmel ragten, sondern horizontal nach außen strebten und nun einen niedrigen, riesigen, undurchdringlichen Schirm von zwanzig Metern Durchmesser bildeten. Unter ihm fänden leicht hundert Menschen ein Dach. Die Zweige wurden von einem Kreis Metallstützen gehalten, die den mächtig gewundenen Stamm umstanden; der Baum müßte mindestens zweihundert Jahre alt sein. Neben ihm fand sich eine Hinweistafel, auf der für die Spaziergänger ein Gedicht zu lesen war.
Ich blieb kurz stehen und versuchte einige Zeilen zu entziffern:
...Ich bin der Stiel zu Eurem Rechen, Die Tür zu Eurem Haus, Das Holz zu Eurer Wiege Und das Brett zu Eurem Sarg.
Hier und dort pickten Hühner im struppigen Gras nach Würmern. An ein paar Tischen spielten Männer sueca, jeder wählte und legte seine Karten mit zugleich weiser und resignierter Miene. Gewinnen war ein stilles Vergnügen.
Es war heiß - vielleicht 28º C - und gegen Ende Mai. In ein oder zwei Wochen würde Afrika, das einer Redensart nach auf dem gegenüberliegenden Ufer des Tejo begann, uns seine ferne und doch greifbare Nähe spüren lassen. Auf einer der Parkbänke saß unter einem Schirm sehr still eine alte Frau. Es umgab sie jene Art Stille, die aufmerken ließ. So wie sie auf der Bank saß, wollte sie, daß man ihre Gegenwart bemerkte. Mit einem Koffer in der Hand überquerte ein Mann den Platz und machte dazu ein Gesicht, als eile er zu einem Rendezvous, das er Tag für Tag einhalte. Danach trug eine Frau einen Hund auf dem Arm - beide sahen traurig drein - und ging zur Avenida da Liberdade hinüber. Die alte Frau auf der Bank hielt in ihrer demonstrativen Stille inne. An wen richtete sich diese Stille nur?
Gerade wollte ich mir diese Frage stellen, da stand sie plötzlich auf, drehte sich um und trat, den Schirm wie -einen Spazierstock benutzend, auf mich zu.
Lange bevor ich ihr Gesicht sehen konnte, hatte ich sie am Gang erkannt. Die Schritte von jemandem, der sich schon aufs Ankommen und Hinsetzen freut. Es war meine Mutter.



In meinen Träumen geschieht es manchmal, daß ich in der Wohnung meiner Eltern anrufen möchte, um ihnen mitzuteilen, daß ich mich vermutlich verspäte - ich habe einen Anschlußzug verpaßt -, oder um sie zu bitten, es jemand anderem auszurichten. Ich möchte sie warnen, daß ich im Moment nicht dort bin, wo ich hingehöre. Von Traum zu Traum verschieben sich die Details, aber im Kern will ich ihnen immer dasselbe erzählen. Immer gleich ist auch, daß ich mein Adreßbuch nicht bei mir habe und mir, bei allen mühevollen Versuchen, mich zu erinnern, ihre Nummer nicht einfallen will. Das entspricht der Wahrheit, denn in meinem Wachleben habe ich tatsächlich die Telefonnummer der Wohnung vergessen, in der meine Eltern zwanzig Jahre lang gelebt haben - dabei hatte ich die Zahlen auswendig gewußt. Was ich hingegen in meinem Traum immer vergesse, ist, daß meine Eltern tot sind. Mein Vater seit fünfundzwanzig Jahren, meine Mutter starb zehn Jahre darauf.



Sie hängte sich bei mir ein, und in stiller Übereinkunft überquerten wir den Platz, die Straße und spazierten langsam auf das Ende der Mãe-d¿Agua-Treppe zu.
Etwas, John, darfst du nicht vergessen, und du vergißt ja so schnell. Die Toten bleiben nicht in ihrem Grab, das mußt du wissen.
Während sie sprach, schaute sie mich nicht an. Als ob sie zu stolpern fürchtete, tastete sie den Boden ein paar Meter vor uns konzentriert mit den Augen ab.
Und ich spreche nicht vom Himmel, das ist gut und schön, sondern ich werde dir etwas anderes erzählen!
Sie hielt inne und kaute, als ob in einem ihrer Worte etwas Knorpel steckte und sie es vor dem Hinunterschlucken noch einmal durchkauen müßte. Dann fuhr sie fort:
Nach ihrem Sterben dürfen die Toten wählen, wo sie auf der Erde le ... Leseprobe

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