0

Religion und Sozialstaat

Die konfessionellen Grundlagen europäischer Wohlfahrtsstaatsregime, Theorie und Gesellschaft 68

Erschienen am 10.11.2008, Auflage: 1/2008
35,00 €
(inkl. MwSt.)

Lieferbar innerhalb 1 - 2 Wochen

In den Warenkorb
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593387529
Sprache: Deutsch
Umfang: 197 S.
Format (T/L/B): 1.4 x 21.3 x 14 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

In Westeuropa gibt es drei Typen von Wohlfahrtsstaaten: den nordisch universalen und generösen, den eher residualen und liberalen in den angelsächsischen Ländern und den fragmentierten Sozialversicherungsstaat in Kontinentaleuropa. Legt man die historischen Wurzeln die- ser Systeme frei, wird die Bedeutung konfessioneller Konfliktlinien für die sozialstaatliche Typenbildung offensichtlich. So lässt sich der tief greifende Konflikt zwischen Kirche und Staat nur in Kontinentaleuropa finden, nicht aber in Skandinavien. Diese Konflikte waren jedoch entscheidend für die Herausbildung der Parteisysteme Westeuropas und damit auch für die sozialstaatliche Politikentwicklung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute.

Autorenportrait

Philip Manow ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Konstanz.

Leseprobe

1. Einleitung "Religion und Sozialstaat" ist ein Thema mit Konjunktur. Nachdem es lange eher abseitig erschien, allenfalls als argumentativer Seitenstrang der Modernisierungstheorie oder des neo-marxistischen power resources-Ansatzes in Erscheinung trat, hat sich die vergleichende Sozialstaatsforschung in letzter Zeit dem Zusammenhang zwischen nationaler konfessioneller Prägung und wohlfahrtsstaatlicher Sicherung aus unterschiedlichen Perspektiven verstärkt gewidmet. Hierbei spielen mindestens drei unterschiedliche Argumente eine Rolle. Für die einen sind Religiosität und wohlfahrtsstaatliche Sicherung Substitute (Norris/Inglehart 2004; Scheve/Stasavage 2006; Gill/Lundsgaarde 2004). Pointiert formuliert: Dort, wo der Sozialstaat existenzielle Lebenskrisen in versicherungsfähige Risikolagen überführt, verringert sich das Bedürfnis nach religiöser Angstkompensation und nach der spirituellen Orientierungsleistung der Kirche in persönlichen Notlagen. Mit staatlich gewährter sozialer Sicherheit nimmt der Bedarf an religiöser Tröstung ab, während "the importance of religiosity persists most strongly among vulnerable populations [] facing personal survival threatening risks" (Norris/Inglehart 2004: 7). Zudem ist Kirchenmitgliedschaft dann nicht mehr Voraussetzung für den Zugang zu Wohlfahrt und Fürsorge, wenn der religiös neutrale Nationalstaat die Kirche als Hauptproduzenten sozialer Leistungen verdrängt hat. Aus dieser Sicht ist der Wohlfahrtsstaat Teil jenes umfassenden Säkularisierungsprozesses, der die Religion weitgehend aus dem Alltag hat verschwinden lassen. Empirisch lebt dieses Argument hauptsächlich von dem Kontrast zwischen einem mittlerweile weitgehend säkularen Europa mit seinen großzügigen Wohlfahrtsstaaten einerseits und der weiterhin tief religiösen USA und ihrem liberal-residualen Wohlfahrtsstaat andererseits, aber auch vom Vergleich mit anderen Regionen, in denen existenzielle Lebenskrisen häufig, wohlfahrtsstaatliche Absicherung kaum entwickelt und Religiosität ausgeprägt sind (Norris/Inglehart 2004). Aus einer anderen Perspektive prägt Religion als mächtige beziehungsweise mächtig nachwirkende Kulturpotenz den Sozialstaat vor allen in den Bereichen, die immer zugleich auch zentrale moralische Fragen, Fragen der normativen Selbstvergewisserung einer Gesellschaft aufwerfen: Wie geht sie mit ihren Randgruppen um, den Armen und Bedürftigen? Wie ist der Nexus zwischen "Arbeit und Essen" sozialpolitisch ausgestaltet? Was sind die leitenden Prinzipien gesellschaftlicher Solidarität und was wird als gerechte, was als ungerechte Umverteilung angesehen (Kahl 2005; Kaufmann 1988)? Dominiert eine strenge calvinistische Leistungsethik und das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit oder ist die Solidarität mit den Bedürftigen der Gesellschaft eher katholisch-großzügig definiert? Bei den sozialpolitischen Antworten auf diese Fragen werden - so die These dieser Literatur - entweder offen religiöse oder doch zumindest religiös stark gefärbte Normorientierungen wirksam, die sich an den frappierenden Unterschieden in der institutionellen Ausgestaltung der jeweiligen Sozialstaatlichkeit ablesen lassen. Gleichsam als Nach- oder Fernwirkung religiöser Gerechtigkeitslehren und Sozialdoktrinen zeugen die Unterschiede in der institutionellen Ausgestaltung des Sozialstaats von seiner konfessionellen Prägung. Wiederum etwas überspitzt formuliert ist in dieser Perspektive der Wohlfahrtsstaat nicht Instrument der Säkularisierung, sondern selbst nur die säkularisierte Version unterschiedlicher konfessioneller Sozialdoktrinen. In diesen Kontext gehört etwa auch die gängige Deutung des südeuropäischen Wohlfahrtsstaatsmodells als institutionelle Verwirklichung eines antiquierten katholischen Familienmodells mit männlichem Alleinbroterwerber und der auf die reine Familienrolle verwiesenen Ehefrau. Empirisch lebt dieses Argument von der Beobachtung, dass "corporate-conservative welfare states were most likely to emerge in predominantly Catholic societies, such as France and Italy, [] liberal welfare states emerged only in areas heavily influenced by Reformed Protestantism (that is, England and its settler colonies) [] [and] that social-democratic welfare states emerged only in the homogeneously Lutheran countries of Scandinavia" (Gorski 2003: 163; vgl. Manow 2002). Es ist die erstaunliche Übereinstimmung zwischen nationaler konfessioneller Prägung und der spezifischen Form der Wohlfahrtsstaatlichkeit, die dem Argument von der langfristigen sozialpolitischen Wirkung religiöser Werteorientierungen besondere Plausibilität verleiht. Eine dritte Perspektive ist an der Frage interessiert, wie der Staat/ KircheKonflikt am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts variierende institutionelle Kompromissformeln gefunden hat, die noch heute die Arbeitsteilung zwischen Staat und (vor allem kirchlichen) Wohlfahrtsverbänden in der Bereitstellung sozialer Dienstleistungen prägen (Fix/Fix 2005; Fix 2001, 2001a; Alber 1995). Die von Land zu Land deutlichen Unterschiede im Umfang des Dritten Sektors verweisen auf eine unterschiedlich erfolgreiche nationalstaatliche Eroberung eines Gebietes, das sich zuvor unter nahezu ausschließlich kirchlicher Herrschaft befand: Fürsorge für die Armen, Kranken, Waisen, Alten oder sonst wie Bedürftigen der Gesellschaft. Der Kompetenzstreit zwischen aufstrebendem Nationalstaat und Kirche im Bildungs und Wohlfahrtsbereich ist im Wesentlichen auf drei Weisen entschieden worden: Entweder durch die weitgehend konfliktfrei vollzogene Übernahme kirchlicher Wohlfahrt und Schulen in staatliche Eigenregie (Bsp.: Schweden), oder durch die konfliktreiche, mehr oder weniger vollständige Enteignung der Kirche im Bereich ihrer sozial und bildungspolitischen Aktivitäten (Bsp.: Frankreich) oder durch die korporative Einbindung der Kirchen als sozialer Leistungserbringer und Schulträger in den entstehenden nationalen Leistungs und Interventionsstaat (Bsp.: Deutschland, Niederlande). Je nach institutionell verfestigter Kompromissformel sind die europäischen Sozialstaaten entweder uniform, universalistisch (und laïzistisch) orientiert und unter zentralstaatlicher Verantwortung oder aber fragmentiert, dezentral, subsidiär ausgerichtet, das heißt mit einer starken Rolle von Verbänden im Wohlfahrtssektor. Empirisch lebt dieses Argument von den von Land zu Land deutlichen Unterschieden in der Bedeutung des Dritten Sektors bei der Erstellung sozialer Leistungen. Sie bezeugen, so das Argument, wie sehr der historische Ausgang des Staat/KircheKonflikts noch die heutigen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements prägt.

Inhalt

Inhalt Vorwort Danksagung Einleitung Eine konfessionelle Landkarte europäischer Sozialstaatsmodelle Wahlregeln, gesellschaftliche Spaltungslinien und der Klassenkompromiss - oder wie man Esping-Andersen mit Stein Rokkan erklären kann Deutschland: Die Soziale Marktwirtschaft als interkonfessioneller Kompromiss Frankreich: Ein christdemokratischer Wohlfahrtsstaat ohne Christdemokratie? Der französische Etat-providence, 1880-1960 Verzeichnis der Tabellen Verzeichnis der Abbildungen Appendix Literatur

Schlagzeile

Theorie und Gesellschaft Herausgegeben von Jens Beckert, Rainer Forst, Wolfgang Knöbl, Frank Nullmeier und Shalini Randeria

Weitere Artikel aus der Kategorie "Politikwissenschaft/Politische Theorien, Ideengeschichte"

Alle Artikel anzeigen